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Aggressivität


Unheiles Elternhaus

„So ein toller Kerl“ sei er, schwärmt seine Mama von Finn*, ihrem neunjährigen Sohn, der ihr wie aus dem Gesicht geschnitten ist: „Er ist witzig, klug und sieht super aus. Ein richtiger Goldjunge.“

Doch diesem tollen Kerl fühlt sie sich längst nicht mehr gewachsen: Immer aggressiver, immer fordernder, immer provokanter verhalte er sich ihr gegenüber, um seine Bedürfnisse und Wünsche durchzusetzen, so beklagt Emilia* (38). Oft werde er ihr gegenüber sogar handgreiflich.

Deshalb ließ sie ihn von Dezember 2019 bis Mai 2021 von einer Psychotherapeutin behandeln. Diese bestätigte hinterher: Der Junge zeige sich „massiv grenzverletzend“. Es erscheine „sinnvoll und erforderlich, mit Finn alternative Strategien für seine grenzverletzenden Verhaltensweisen zu erarbeiten und eine Steigerung der Regelakzeptanz und Frustrationstoleranz zu erwirken“.

Die Therapeutin selbst scheint dies in 18 Behandlungsmonaten nicht hingekriegt zu haben – womöglich auch deshalb, weil sie mit dem Kind Einzelsitzungen abhielt, statt von Anfang an systemisch anzusetzen. Warum bezog sie die engsten Bezugspersonen nicht von Anfang an ein?

Dass in Wahrheit nicht der Junge, sondern seine unheiles Elternhaus das Problem ist, sieht niemand klarer als die Mutter selbst. Im Anmeldeformular für ein erstes „Auswege“-Camp 2023 konstatiert sie: „Finn ist körperlich gesund, er leidet unter seiner psychisch kranken Mutter.“ In einem bewegenden Brief vom Februar 2022 zeichnet Emilia bemerkenswert selbstkritisch nach, wie sie durchs Muttersein einem überwiegend unglücklichen, als verkorkst empfundenen Leben endlich Sinn zu geben versuchte („Ich dachte, ein Kind könnte meine Aufgabe sein, es würde alles besser machen“) – und sich damit überforderte. Obwohl „ich mein Kind so sehr liebe“, habe sie „das Muttersein gehasst. Ich wusste nicht, was zu tun ist, was ich mit meinem Baby anfangen sollte.“ Bis heute sei sie „sehr unausgeglichen, oft launisch und depressiv“. Deshalb habe sich Finn „von Anfang an unerwünscht gefühlt. Ich habe ihn so oft angeschrien und so oft die Kontrolle verloren. Wie oft habe ich ihm gesagt, dass ich ihn nicht haben will, dass er zu anstrengend ist, dass er ins Heim kommen soll.“

Welche Rolle spielt Finns Vater? Von ihm lebt die Mutter inzwischen getrennt, trotzdem bestehen weiterhin regelmäßige Kontakte. „Wir haben uns immer gestritten und streiten auch jetzt noch“, bekennt Emilia. Finn „kennt uns nur streitend, verbal auch oft unter der Gürtellinie und zum Teil handgreiflich. (…) Fakt ist, dass Finn in einer sehr instabilen Umgebung aufgewachsen ist. Deshalb hasst er Streit. Oft erschrickt er, wenn es plötzlich laut wird oder jemand mit ihm schimpft oder sehr streng spricht. Er hat Angst – auch davor, verlassen zu werden. Das ist seine größte Angst, dass Mama weg ist.“

Für Finns Entwicklung übernimmt seine Mama die Alleinschuld: „Durch meine vernarbte Psyche habe ich seiner kleinen Seele schon extrem viel Schaden zugefügt. Das tut mir so leid, dass mir in diesem Moment wirklich die Tränen über die Wangen laufen. (…) Ich bin innerlich krank und will nicht, dass meinem Sohn das Gleiche widerfährt. Er soll glücklich sein. Er soll das Leben leben und genießen.“

Eine erste Campteilnahme 2022 habe Finn „sehr gut getan“, so bestätigte uns seine Mutter im Juli 2024. „Er sprach noch lange davon. Es war eine tolle Erfahrung für ihn. Trotzdem hat der Allag schnell wieder die Oberhand gewonnen und die Probleme bestehen weiterhin. Das liegt in erster Linie an mir, weil ich es nicht bewerkstelligen kann, das Mutter/Sohn-Verhältnis in die richtige Balance zu bringen.“ Es werde „immer schlimmer. Da Finn nie richtige Grenzen aufgezeigt bekam und es an einem strukturierten Alltag fehlte, ist sein Verhalten grenzenlos. Bekommt er seinen Willen nicht, dann rastet er aus, wird gewalttätig mir gegenüber und weiß gar nicht, wohin mit seinen Emotionen.“ Mehrmals wandte sich die Mutter ans Jugendamt, woraufhin ihr sozialpädagogische Familienhilfen zur Verfügung gestellt wurden. „Doch diese haben leider nichts dazu beitragen können, dass sich etwas ändert.“

Eine erfreuliche Wende brachte ein weiteres Therapiecamp im Sommer 2024. “Während des ganzen Camps war Finn angepasst und höflich”, so konstatierte ein anwesender Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie. “Auch seiner Mutter gegenüber rastete er nicht mehr aus.”

Plötzlich ruhig und ausgeglichen

Seit Jahren verhielt sich Jennifer*, 8, hyperaggressiv – vor allem gegenüber der Mutter, die von dem Mädchen abwechselnd ignoriert, beleidigt, geschlagen und gebissen wurde. Mit Sechs kam Jennifer in ein Kinderneurologisches Zentrum, nachdem sie sich während einer Psychotherapie büschelweise die Haare ausriss, ohne Schmerzreaktionen zu zeigen. – Am Ende des 2. AUSWEGE-Therapiecamps wirkte Jennifer wie verwandelt: Sie war ruhig, ausgeglichen und freundlich; sie plauderte, ja kuschelte mit ihrer Mutter, gehorchte ihr; fürsorglich kümmerte sie sich um kleinere Kinder. (Näheres in Harald Wiesendanger: Neun Tage unter Engeln).

Auswege bei psychischen Leiden: erst dank Profis?

Sowohl in den AUSWEGE-Camps als auch in den Praxen des AUSWEGE-Netzwerks treffen Patienten nur selten professionelle Psychotherapeuten oder gar Fachärzte für Psychiatrie an. Wie können psychisch Belastete dort überhaupt Hilfe erwarten? Wen das wundert, der kennt nicht den erstaunlichen Forschungsstand: Bei seelischen Leiden erreichen einfühlsame, kommunikativ kompetente, lebenserfahrene Laien demnach im allgemeinen keineswegs weniger als studierte Psycho-Profis – auch bei Aggressivität. Belege und Gründe dafür stellt der AUSWEGE-Gründer Dr. Harald Wiesendanger in seiner 10-bändigen Schriftenreihe Psycholügen vor, insbesondere in Band 3: „Seelentief - Ein Fall für Profis?“ (2017)

* Name von AUSWEGE geändert