Phobie
Nicht befreit, aber erleichtert
Eine besondere Herausforderung bescherte 2021 das neuntägige Beisammensein in einem AUSWEGE-Therapiecamp, mit über 30 Fremden, der soziophoben Silke* (45). Schon „seit dem Kleinkindalter“, so gab die landwirtschaftliche Hilfskraft bei der Anmeldung an, leide sie an einer „ängstlich vermeidenden Persönlichkeitsstörung“. Sie sei menschenscheu und habe „wenig Kontakte“. Auf dem Bauernhof der Schwiegereltern, in dem sie mitarbeitet, belasten sie „die vielen Menschen. Ich bin überfordert von dem ständigen Trubel“ und „fühle mich nicht zugehörig“.
Ihre eigenen Eltern, beides Landwirte, verstarben 2009 bzw. 2018. Ihr Tod war für Silke „ehrlich gesagt eine Entlastung“. Denn „unsere Beziehung war für mich von klein auf von Erwartungen gekennzeichnet, was ich alles für sie zu tun habe. Ich war ein sehr stilles Kind, lachte zuhause nicht. Dies wurde mir ständig von ihnen vorgehalten. Das machte mir Druck und verschlimmerte alles noch. Dass ich immer sehr viel mithelfen musste im Betrieb, machte mich oft extrem wütend.“
Mit Fünfzehn setzten Depressionen ein, mit „Gefühlen von Leere und Sinnlosigkeit“. Tiefenpsychologische und Verhaltenstherapie, Hypnotherapie und Geistiges Heilen halfen Silke kaum, wie auch die Psychopharmaka Duloxetin und Lithium, die sie zur Zeit schluckt.
Die Campwoche befreite Silke zwar nicht, aber erleichterte sie. „Das Camp war absolut toll für mich“, schwärmt sie. Ihre Depressionen haben „ein wenig nachgelassen“, so lautete ihr Fazit bei Campende. Nun könne sie „das Zusammensein mit Menschen als angenehm empfinden. Ich habe mit vielen gesprochen und mich verbunden gefühlt. Hier kam immer eine wohlwollende Reaktion. Ich schäme mich weniger für mich, fühle mehr Freude und weniger Anspannung. Meine Gefühle und Bedürfnisse nehme ich ernster.“
„Das Beste war für mich die Freundlichkeit, Herzlichkeit wirklich aller beteiligter Personen, vom Team über die Teilnehmer bis zu den Gastgebern. Unglaubliche Vielfalt an Themen in den Vorträgen. Viele Anregungen. Tolle Umgebung. Alle Therapeuten machten einen total sympathischen Eindruck, auch meine ‚Mitpatient/innen‘. Ich bin wirklich sehr froh, hier gewesen zu sein.“
„Aus ihrem Schneckenhaus gekommen“
Unter enormem psychischen Druck stand die 13-jährige Ella*, bevor sie 2021 in ein AUSWEGE-Therapiecamp kam. „In sozialen Situationen wie Einkaufen, einen Fremden etwas fragen, telefonieren usw. hat sie habe Ängste bzw. Hemmungen“, so beschrieb die Mutter sie im Anmeldeformular. „Mit Zehn war sie kurze Zeit in einer Psychotherapie, wegen starkem Rückzug und depressivem Verhalten. Die Therapie wurde beendet, weil Ella nicht mehr wollte und zu der Therapeutin keinen richtigen Kontakt gefunden hat. Häufig leidet sie unter Übelkeit und Erbrechen, vor allem frühmorgens vor dem Schulbesuch“, den sie „ein paar Mal völlig verweigert“ habe. „Momentan versuchen wir mit Unterstützung des Schulpsychologen, Ella von dem Druck zu entlasten, den sie empfindet.“
Am ersten Camptag überwogen bei ihrer Mutter noch Bedenken. „Sind wir hier richtig? Ella war vorher sehr dagegen eingestellt. Mit mir zusammen in einem Zimmer zu sein, bringt sie an ihre Grenzen. Sie schließt sich im Bad ein. Später will sie auf dem Boden schlafen. Jedes Geräusch bringt sie in Rage.“
Doch im Laufe der „Auswege“-Woche wirkte Ella wie verwandelt. „Ihre sozialen Ängste haben deutlich nachgelassen“, so konstatierte ihre Mutter am Ende des Camps. „Sie ist weniger gehemmt, traut sich mehr zu, sucht Kontakt, spricht mit Erwachsenen und Kindern. Sie lacht mehr, albert herum, ist nicht mehr so wütend. Hier hat sie neue Erfahrungen mit sich und anderen machen dürfen.“ Und endlich begegnete sie einem Therapeuten, der „eine gute Verbindung zu Ella gefunden hat – sie respektiert ihn und fasste Vertrauen.“
„Im Laufe der Camptage ist Ella immer mehr aus ihrem Schneckenhaus gekommen“, wie ein anwesender Psychiater feststellte. „Sie öffnete sich, wurde kommunikativ und profitierte sehr von den einzelnen Therapien.“
Auswege bei psychischen Leiden: erst dank Profis?
Sowohl in den AUSWEGE-Camps als auch in den Praxen des AUSWEGE-Netzwerks treffen Patienten nur selten professionelle Psychotherapeuten oder gar Fachärzte für Psychiatrie an. Wie können psychisch Belastete dort überhaupt Hilfe erwarten? Wen das wundert, der kennt nicht den erstaunlichen Forschungsstand: Bei seelischen Leiden erreichen einfühlsame, kommunikativ kompetente, lebenserfahrene Laien demnach im allgemeinen keineswegs weniger als studierte Psycho-Profis – auch bei übermäßiger Angst vor bestimmten Objekten oder Situationen, einer sogenannten „Phobie“. Belege und Gründe dafür stellt der AUSWEGE-Gründer Dr. Harald Wiesendanger in seiner 10-bändigen Schriftenreihe Psycholügen vor, insbesondere in Band 3: „Seelentief - Ein Fall für Profis?“ (2017)