Tourette-Syndrom
„Auswege“-Camp eröffnete tatsächlich Ausweg
Schon in der Grundschule fiel Roland* immer wieder damit auf, dass er unvermittelt brummte oder summte, Laute wie „huh“ oder „hi“ von sich gab. Zu diesen vokalen Tics (von frz. tic: „nervöses Zucken“) kamen bald motorische wie Zunge herausstrecken, Grimassieren, sich am Hemd ziehen oder Schulterzucken. Bis heute kommen sie täglich und fast durchgängig vor, überwiegend als Schniefen, Räuspern, Blinzeln, den Mund verziehen, die Nase rümpfen, die Schultermuskeln anspannen, die Arme ausstrecken, die Handgelenke strecken, mit dem Ellenbogen auf den Tisch hauen. Weil er dabei oft die Muskeln stark anspannt, leidet er an Schmerzen, besonders in der rechten Schulter. Ruwen hat ein „Vorgefühl“ für seine Tics: Kurz bevor sie einsetzen, spürt er „im Kopf eine Art Anspannung“. Neuropsychiater sprechen von einem „Tourette-Syndrom“, so benannt nach dem französischen Arzt Georges Gilles de la Tourette (1857-1904), der das Krankheitsbild erstmalig beschrieb.
Zwei Jahre später, mit 14, begann Roland vielerlei Gedanken- und Handlungszwänge zu entwickeln, die ihn bis heute quälen und im Alltag massiv einschränken. So „müsse“ er bestimmte Dinge anfassen, hochheben oder symmetrisch anordnen. Unterwegs „müsse“ er umkehren, wenn ihm etwas aufgefallen sei, um zu kontrollieren, dass er nichts vergessen oder verloren habe; unterlasse er das, spanne er sich immer mehr an, was „kaum auszuhalten“ sei. Auch fühle er sich gezwungen, bestimmte Handlungsabläufe gedanklich immer wieder durchzugehen, bis sie „perfekt“ sind.
Unter seinen Einschränkungen leidet Roland derart, dass sich eine depressive Störung entwickelt hat.
Vier stationäre Psychiatrieaufenthalte zwischen 2002 und 2008 halfen nicht, vielerlei Medikamente dämpften die Symptome nicht ausreichend, nur zeitweilig und mit unangenehmen Nebenwirkungen verbunden. Seit 2007 lebt Roland in einer betreuten Vierer-Wohngruppe eines sozialpsychiatrischen Hilfsvereins, wo er Schachteln sortiert.
Besonders innig fühlt sich Roland mit seiner Mutter verbunden, der er „vollkommen vertraut“.
Sein Vater hatte die Familie verlassen, als Roland sechs Jahre alt war. Zu seiner vier Jahre jüngeren Schwester habe er „inzwischen“ ein recht gutes Verhältnis, zu seinem Stiefvater hingegen, der 2002 mit der Mutter zusammenzog, ein eher „verhaltenes“.
Ein Klinikbericht vom Oktober 2012 charakterisiert Roland als „wach und zeitlich, örtlich, situativ und zur Person vollständig orientiert“, „krankheitseinsichtig und therapiemotiviert“.
Von neun Therapietagen im 18. AUSWEGE-Camp 2015 profitierte der inzwischen 28-Jährige Roland enorm. Wie rasch und weitgehend sich seine psychische Verfassung ebenso wie sein Sozialverhalten im Campverlauf änderten, verblüffte seine mitgereiste Mutter: Beim Abschlussfest übernahm er „die Aufgabe als Grillmeister, stand dazu und wollte gar nicht mehr aufhören, es machte ihm richtig Spaß.“ An einem überdimensionalen Gruppenbild, auf einer meterlangen Tapetenrolle, „malte er freiwillig mit. Das ist toll und sehr ungewöhnlich für ihn.“ Auf einer Skala von -5 („viel schlechter geworden“) über 0 („unverändert“) bis +5 („viel besser geworden“) schätzte Roland selbst abschließend das Ausmaß, in dem sich seine seelische Verfassung während des Camps veränderte, mit +3 ein. Seine Zwänge hätten „ein wenig“ nachgelassen. Nebenbei scheint auch sein Heuschnupfen „wirklich besser geworden zu sein“.